D' Schlappoldar Länd

von Eugen Thomma am 01.12.2001

Als wollte die ganze Welt im Schnee versinken, so schneite es in der zweiten und dritten Januarwoche des Jahres 1951. Links und rechts der Straßen und Wege türmten sich mehr als zwei Meter hohe Schneehaufen auf. Die Zäune auf den Wiesen waren verschwunden und das Dachgebälk der Häuser und Hütten stöhnte unter der weißen Last. Da schlug plötzlich die Witterung um. Ein Wärmeeinbruch bewirkte, daß es in Lagen unter etwa 1.200 Metern in Strömen regnete. Oberstdorfs Dorfstraßen glichen eher dem venetianischen Kanalsystem als normalen deutschen Verkehrswegen.

Es war Samstag, 20. Januar, gegen 17.30 Uhr. Wir, mein älterer Bruder und ich, waren dabei, Revolver-Attrappen zu fertigen, die wir für den vorgesehenen Besuch des heutigen Fasnachtsballes in der Turnhalle benötigten. Doch es sollte anders kommen. Unsere Mutter rief uns aus den Keller, weil Besuch da war. Wir staunten nicht schlecht über den Gast, es war der Schmidt Michl, damals Beamter der Oberstdorfer Gemeindepolizei. Der zerstörte gleich mit wenigen Worten unsere herrlichen Pläne und die Freude auf einen vergnügten Abend. Eine Lawine habe die Schlappoldalpe weggerissen und den Hüttenwirt Ulrich Loos und dessen Ehefrau Sefa verschüttet. Der außer den Wirtsleuten zum Zeitpunkt des Unglücks anwesende Träger Horst Knieling habe sich aus den Schneemassen befreien und die Meldung ins Tal bringen können.

Ulrich Loos war ein Bergwachtkamerad von uns, und wir hatten mit ihm nicht nur eine Reihe von Bergeinsätzen erlebt, sondern bei ihm und seiner Frau auf der Schlappoldhütte schon vergnügte Abende verbracht. Daher traf uns die Meldung auch persönlich hart. Fasnachtsball ade, umziehen, Rucksack packen und Skier schultern hieß nun die Devise.

Etwa eine halbe Stunde später fuhr eine sieben Mann starke Bergwachtgruppe mit unserem treuen „Stöwer”* in Richtung Birgsau ab. Unser Gefährt trieb in der Seenlandschaft im Ort an verschiedenen Stellen regelrechte „Bugwellen” vor sich her. Je weiter wir ins Tal kamen, wandelte sich der prasselnde Regen in patzigen Schnee. In der Flucht, wo heute „Deutschlands längste Lawinengalerie” die Talstraße schützt, kamen wir mit dem Allradfahrzeug nur mit Schieben und viel Mühe durch die nassen Schneehaufen. In der Faistenoy, an der Talstation der Materialbahn zum Kanzelwandhaus, war für unseren Kübelwagen der Weg zu Ende. Über ein Feldtelefon konnten wir mit dem Wirt an der Bergstation Verbindung aufnehmen, doch waren dessen Auskünfte alles andere als ermutigend. Die Last der pappigen, an den Tragseilen der Bahn hängenden Schneemassen hatte die Seile aus der Verankerung gerissen, so daß diese nur notdürftig verspannt waren.

Schlappold - Heft 39

»Schlappold« im Bauzustand von 1950: die neue Sennhütte, der Stall und rechts das „Tagwearkarhüttle”. Am Grat oben haben sich Wächten gebildet, die durch die gewaltigen Schneefälle vom Januar 1951 weiter auf gestockt wurden, abbrachen und mit zur Schadenslawine führten.

Einen Transport von Personen, der offiziell ohnehin verboten war, lehnte der Wirt unter den gegebenen Verhältnissen rundweg ab. Erst auf unser Bitten und den Hinweis, daß bei einem vielstündigen Aufstieg die Chancen auf eine Rettung der Verunglückten fraglich sei, ließ sich der gute Mann umstimmen.

Zusammen mit meinem Bruder hatte ich die zweifelhafte Ehre, mit der provisorisch reparierten Seilbahn die „Revisionsfahrt” durchzuführen. Eine Kiste von ca. 40 Zentimeter Höhe, ungefähr einen Meter breit und etwa zwei Meter lang, das war unsere „Kabine”, die mit zwei Laufrollen am Tragseil hing. Otto Rapp, der mit seiner Familie ein kleines Anwesen neben der Talstation bewirtschaftete, war der gute Geist dieses technischen Wunderwerkes. Er war Ladeschaffner, Rollenschmierer, Hausmeister und Stationsvorsteher, alles in einer Person. Er gab uns die ermahnenden Worte mit auf den Weg: „Wen dr merked, daß Kischte üshenkt, no jucked dr halt na!” Bei Höhen von teils über 50 Metern ein wahrlich trostreiches Wort!

Als unser Gefährt den Windschatten des kleinen Tannenwäldchens nahe der Talstation verlassen hatte, bekamen wir den Sturm zu spüren. Unser fahrbarer Untersatz wurde zur Seite gedrückt, so daß das Tragseil schräg neben uns und nicht mehr über uns verlief. Wir hatten zudem alle Hände voll zu tun, die durch die Rollen vom Seil gelösten Schneebatzen mit unseren Lawinenschaufeln aus der Kiste zu werfen.

Bei dieser anstrengenden Arbeit vergaßen wir ganz Ottos heilsamen Rat und bemerkten das Ende der Fahrt erst, als unsere „Kabine” im Schnee stecken blieb. Schemenhaft erkannten wir das Licht der Bergstation etwa 30 Meter vor uns. Das Aussteigen bereitete schon die ersten Schwierigkeiten „an Land”. Wie „Schillers Taucher” - plumps, weg war er - erging es meinem Bruder, als er die Transportkiste der Seilbahn verließ. Mit größter Mühe konnte ich ihn aus dem lockeren Schnee, in dem er fast bis zum Halse steckte, wieder in die schwankende Bretterkiste ziehen. Wir mußten dort die Skier anschnallen, unsere Rucksäcke schultern und konnten erst dann aussteigen.

Von der Bergstation der Bahn, wo auch das Stromaggregat stand, zu der alten Möserhütte führte eine Lichtleitung auf normalen Masten. Nun glich diese Leitung einem im Schnee vergessenen Weidezaun. Wir mußten uns hinlegen und unter den Drähten durchschlüpfen. Die Unterkunft sahen wir nicht. Nur ein Loch im Schnee verriet deren Standort. Rutschte man in diese Höhle hinab, landete man genau vor der Hüttentüre.

Schlappold - Heft 39

Der Schlappoldkopf mit den Skigebieten Fellhorn (links) und Schlappold. Rechts im Bild die Alpe Schlappold (vor dem Umbau), wo vor 50 Jahren im Sommer noch nahezu 100 Milchkühe weideten. Im Bild eingezeichnet das Ausmaß und der Verlauf der Schadenslawine.

In unserem Fall war die Türe auf und so war das Ende der Rutschbahn im Hausgang. In dieser schützenden Höhle warteten wir die Ankunft der zweiten Fuhre ab, mit der unsere Kameraden zu Berg gekarrt wurden. Dann begann der Aufstieg. Der Kanzelwand-Hüttenwirt Erwin Baier und dessen Träger schlossen sich uns an. Sie waren nicht davon abzubringen, mit uns ihren verunglückten Nachbarn zu helfen.

Die Neuschneemassen bereiteten uns erhebliche Schwierigkeiten. Der erste Mann sank trotz der Skier bis über die Knie ein. Nach kurzer Zeit mußte jeweils der „Schneepflug” an der Spitze unserer Gruppe ausgewechselt werden. Als wir die Hänge unter dem Fellhorn querten, war der Sturm zum Orkan angeschwollen. Zusätzlich zu meinem Rucksack hatte ich einen halben Akja zu tragen. Im Rahmen der alternativen Stromgewinnung wäre einmal zu prüfen, ob mit so einem Akja nicht Energie erzeugt werden könnte. In jener Nacht hätte man wohl ein kleines E-Werk mit dem Wind betreiben können, der sich in meinem Akja gefangen hatte. Mehrmals haben uns plötzliche Windböen einfach umgeblasen.

Die Orientierung bei Nacht und den herrschenden Witterungsverhältnissen war ein kleines Kunststück. Wir waren schon Stunden unterwegs und glaubten schon an unserem Ziel vorbei zu sein. Bei einer kurzen Rast brüllte jeder dem andern seine Meinung über den gegenwärtigen Standort ins Ohr. Und das Ergebnis: neun Mann, neun Meinungen! Wir stapften weiter. Bei einer neuerlichen „Lagebesprechung" befürchteten einige, daß wir uns bereits auf die Abstürze am Herzrücken zubewegten. Zu unserem „Gespräch” hatten einige die Kapuzen der Anoraks gelockert. Plötzlich war mir, als hätte ich Hundegebell gehört. Ich glaubte schon an eine Sinnestäuschung, doch da war das Geräusch schon wieder. Jetzt hörten es auch die anderen. Ich hatte doch nicht geträumt! Aber wo kam das Gebell her? Von oben - von unten - von vorn - von hinten? Das Heulen des Sturmes ließ zunächst keine Lokalisierung zu. Also Anorak auf, Kapuze und Zipfelmütze runter, um besser hören zu können.

Wie Nadeln stachen die vom Orkan gepeitschten Eiskristalle in dem vorher geschützten Gesicht. In diesem Augenblick stand uns das Glück bei. Für einen Moment holte der Sturm neuen Atem, und wir hörten ganz klar rechts unter uns das Hundegebell. Gleich wandten wir uns in diese Richtung und sahen nach wenigen Metern etwas Dunkles vor uns auftauchen. Es war die Schlappoldhütte, besser gesagt, das was von ihr noch übrig war.

Um die zerfetzten Bretter und Balken, die aus dem Schnee ragten, jaulte der Wind in den verschiedensten Tonarten. Wir glaubten schon, alles Leben sei dort erloschen, als unmittelbar vor uns der Hund wieder zu bellen begann. Jetzt erst bemerkten wir, daß der Schneehaufen vor uns das völlig zugewehte Stallgebäude war, das im Sommer bis zu 100 Milchkühen Obdach gab. An der Talseite des Stalles fiel aus einer freigeblasenen Fensteröffnung Licht, und nun hörten wir auch das leise Tuckern eines Dieselmotors. Schnell war ein Schlupfloch in den Stall und den kleinen Raum gefunden, in dem das
Notstromaggregat für die nun weggerissene Alphütte stand.

Auf ein paar Büschel Streue gebettet lagen die verletzten Hüttenwirtsleute Ulrich und Sefa Loos. Der Schäferhund, dessen Gebell uns den Weg gewiesen hat, mußte immer wieder von Ulrich zurückgerufen werden. Ich glaube, der treue Vierbeiner wäre uns Eindringlingen zu gerne an die Hosen gefahren.

Die Abwärme des Dieselmotors hatte den kleinen Raum warm gehalten und das erzeugte Licht den Verletzten das Warten auf die erhoffte Hilfe erleichtert. Die beiden hatten sich schon riesige Sorgen um Horst gemacht. Hat er es geschafft? - Ist er durchgekommen? - Kann bei den herrschenden Verhältnissen überhaupt mit Hilfe gerechnet werden, denn die Helfer müssen ja auch unter akuter Lawinengefahr aufsteigen? - Was wird, wenn der Dieselkraftstoff zu Ende geht? - Können wir uns dann noch gegen die Kälte schützen? - Das alles waren Gedanken, mit denen die beiden Verletzten rund 16 Stunden allein waren. Unser Erscheinen war für sie wie das Kommen des Weihnachtsmannes und ließ sie viele Sorgen vergessen. Ihre erste Frage galt dem Träger, der eine bravouröse Leistung vollbracht hatte. In dieser Hinsicht konnten wir die beiden beruhigen. Horst schlief auf der »Ebene« wie ein Murmeltier.

Aber, was war geschehen? - Wie schon erwähnt, hatte es wochenlang geschneit. Die stürmischen Winde aus Südwest und West hatten an den Graten des Schlappolder Kessels turmhohe Wächten geformt. Als auch in diesen Höhen die Temperaturen anstiegen, hielten die Schneemassen die Spannung nicht mehr aus. Ringsum brachen die Wächten auf einen Schlag ab und rissen den meterhohen Schnee der Hänge mit zu Tal.

Aus den späteren Schilderungen der Verunglückten konnte der Hergang etwa so rekonstruiert werden: Dieser Samstag, letztmals ohne Gäste in der Hütte, sollte zum Ausschlafen genutzt werden. Denn bis zum Ende der Skisaison war kein Ruhetag mehr möglich. Am Sonntag sollten weiters Personal und 25 Wintersportler die Hütte beziehen. Eine Gruppe des Rheinischen Turnerbundes wollte dort ihren Skiurlaub verbringen.

Schlappold - Heft 39

Kurse zu je ca. 25 Wintersportler fanden in der geräumigen Hütte Unterkunft. Ulrich Loos, staatlich geprüfter Skilehrer, leitete die Gruppen. Der Hüttenstempel war nach dem Unglück einer der wenigen Dinge, die unbeschädigt geblieben waren.

Samstagmorgen, 7.20 Uhr: Ulrich hatte eben auf die Uhr geschaut und überlegt, ob er nun aufstehen solle. In diesem Augenblick hörte er einen Knall und darauf ein sausendes Geräusch. Der erfahrene Skilehrer und Bergsteiger erkannte die Zeichen, aber es blieb ihm keine Zeit. Im nächsten Augenblick schon war um ihn ein Krachen und Bersten. Wie von einer Riesenfaust gepackt, riß die Lawine alles, was oberhalb des Erdbodens war, mit sich. Balken splitterten, Mauerwerk stürzte ein und Stahlträger wurden gleich einem Korkenzieher gedreht und gebogen. Die Urgewalt der stürzenden Schneemassen brach jeden Widerstand. Ulrich und seine Frau wurden von dieser Wucht aus den Betten gerissen und mit den Trümmern der großen Alphütte talwärts geschleudert. Nach etwa 150 Metern blieb das Ehepaar verletzt an der Oberfläche liegen. Neben Prellungen und anderen kleinen Wehwehchen hatte Ulrich eine klaffende Wunde im Gesicht und Verletzungen im Bereich der Wirbelsäule erlitten. Sefa lag mit gebrochenem Schlüsselbein auf der Lawine.

Wo war Horst, der Träger, geblieben? - Hat ihn die Lawine begraben oder lag er zwischen Balken und Mauerwerk eingeklemmt irgendwo im Gelände? - Diese und ähnliche Gedanken quälten neben den eigenen Sorgen die Verunglückten. Als sie sich vom ersten Schock etwas erholt hatten, überdachten sie die eigene Lage. Nur mit dem Trainingsanzug bekleidet, so wie sie im Bett gelegen hatten, befanden sie sich jetzt auf der Lawine. Lange konnten sie bei dem eisigen Schneesturm mit der mangelhaften Bekleidung im Freien nicht aushalten, das war den beiden klar. Der Wille zum Überleben besiegte die Schmerzen. Sich gegenseitig stützend versuchten sie sich den Hang hochzuschleppen. Da wankte plötzlich eine Gestalt auf sie zu: Horst! Er lebte und schien zumindest äußerlich unverletzt. Der junge, kräftige Bursclie half nun Ulrich und Sefa den Hang hinauf, dorthin, wo vor wenigen Augenblicken noch die große Sennhütte gestanden hatte. Gottlob, der Stall und das kleine Tagwerkerhüttchen standen noch. Beide waren so tief eingeschneit, daß die Lawine über sie hinweggestoben war. Durch die aufgerissene Seitenwand des Stallgebäudes schleppte Horst die Verletzten in den kleinen Raum, in dem das Stromaggregat für die Hüttenbeleuchtung stand, und legte sie auf eine Lage Streu.

Jetzt erst, als der neue Tag heraufzog, wurden die Wirtsleute gewahr, daß auch Horst verletzt war. Aus einer Wunde im Nacken rann ihm Blut über den Rücken. Wie hatte Horst das Unglück überstanden? - Tage später erzählte er mir den Hergang aus seiner Sicht: Als die Lawine kam, lag der 22jährige Bursche, der als Träger und „Häusl” (Hausmeister) angestellt war, noch schlafend im Bett in der Dachkammer. Durch ein fürchterliches Krachen geweckt, wurde er äußerst unsanft von seinem Lager geworfen und landete in der gegenüberliegenden Ecke seiner einfachen Behausung. Ihm schien, als bewege sich alles um ihn herum. Ehe er jedoch gewärtig wurde, was um ihn geschah, blieb sein bis auf einen Meter Höhe zusammengequetschtes Gehäuse in einer Schräglage stehen.

Jetzt krabbelte Horst zu dem offenen Fenster unter dem Giebel der Alphütte und schaute hinaus. Oh Schreck, der Schnee reichte bis an das Fenster heran, und nur ein kleines Schlupfloch durch den Schnee nach oben war frei, der einzige Weg in die Freiheit. Die oberhalb dem Fenster angebrachte Hoflampe war zerbrochen. An dem kaputten Glas zog sich der Bursche bei seinem beschleunigten „Ausstieg” die einzige Verletzung zu, die er bei dem Unglück erlitten hatte.

Jetzt erst sah Horst sein Glück im Unglück. Er war mit dem gesamten Dachstuhl über 100 Meter weit durch die Luft geflogen und erst beim Aufprall auf den Hang aus dem Bett geworfen worden. Die Dachkammer war der einzige Raum der großen Alphütte, der nicht gänzlich zerfetzt worden war. Diesem Umstand und dem großen Glück, daß er aus dem Bett geworfen worden war, verdankte er sein Leben. Auf dem Kopfkissen lag quer der zentnerschwere Kanonenofen aus der anderen Raumecke, den es mit riesiger Wucht dorthin geschleudert hatte.

Nun aber zurück zum Stall der Schlappoldalpe. Ulrich und Sefa lagen verletzt im Motorraum. Horst war barfüßig und auch nur mit einem Trainingsanzug bekleidet. Alle wärmende Kleidung, Schuhe, Skier und Lebensmittel lagen unter der Lawine. Telefon oder Funk war nicht vorhanden. Wie sollte man also Hilfe aus dem Tal herbeibringen? Von der körperlichen Verfassung her war nur Horst in der Lage, den Gang ins Tal zu wagen. Als er Ulrich und Sefa mit Streu zugedeckt, den Motor aufgetankt und in Betrieb gesetzt hatte, machte er sich auf den Weg. Zuvor hatte er den Stall nach Brauchbarem untersucht. Drei durchlöcherte Rupfensäcke und ein paar alte Stricke waren die einzige Ausbeute. Um jeden Fuß einen Sack gewickelt, das ganze mit Streu ausgestopft, den dritten Sack als Kälteschutz auf den Rücken gebunden. So wagte Horst den Abstieg, der entweder Rettung für alle drei oder das Ende des jungen Burschen - und vielleicht auch der Verletzten - bedeuten konnte.

Schlappold - Heft 39

Hier hat einmal die im Winter zur Skihütte umfunktionierte Sennhütte gestanden. Alles was über der Erde lag, war vom Druck der Lawine weggerissen worden.

Schlappold - Heft 39

Im Frühjahr 1951 kennzeichnet ein Trümmerfeld die Lawinenbahn. Stall und Tagwerkerhütte stehen noch, den größten Rest der zerstörten Sennhütte bildet das verbeulte Blechdach, das etwa 150 Meter weit durch die Luft gesegelt war.

Die ersten rund 100 Meter unter der Hütte waren gut zu gehen. Als Horst aber den festgepreßten Grund des Lawinenkegels verlassen hatte, sackte er bis unter die Schultern in den lockeren Neuschnee ein. Es war kein Gehen mehr, er wühlte sich bergab. Öfters schlug die „weiße Pracht” über dem Kopf des Burschen zusammen und er glaubte im Schnee ertrinken zu müssen. Es war schon weit über Mittag, als er noch nicht die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Bis zur Brust im Neuschnee steckend, brauchte er für einen kleinen Gegenhang mehr als eine halbe Stunde. Immer öfter mußte er nach wenigen Schritten eine Pause einlegen. Hungrig, durstig, völlig durchnäßt und ermattet kam in ihm immer wieder der Wunsch auf, einfach liegen zu bleiben und zu schlafen. Jedoch der Gedanke an die beiden Verletzten oben im Stall der Hütte trieben ihn wieder auf. Für einige Meter talwärts reichten die Lebensgeister wieder. Es bedurfte immer wieder eines neuen Entschlusses, sich hochzurappeln und einige müde Schritte dem Ziele entgegen zu tun.

Endlich waren die ersten Tannen erreicht. Unter ihnen lag sicher weniger Schnee und das Vorwärtskommen würde dann leichter werden. Wieder wurde er enttäuscht. An die drei Meter hoch türmte sich der Schnee. Die unteren Äste der Bäume waren eingeschneit und zwischen den Tannen häufte sich mehr lockerer Schnee als im freien Gelände. Minutenlang lag Horst und konnte vor Erschöpfung nicht weiter. Es schneite und stürmte noch immer. Der Schneefall geht langsam in Regen über und macht das Vorwärtskommen noch schwerer. Die Abenddämmerung bricht schon herein. Den Entkräfteten befällt eine Panik. Er weiß, daß es für ihn den sicheren Tod bedeutet, wenn er nicht mehr weiter kann. Noch einmal bäumt sich die jugendliche Kraft gegen dieses Schicksal auf. Noch einmal stürzt und kullert Horst durch den Tiefschnee, doch - diesmal fällt er hart auf. Er landet auf dem ausgeschaufelten Weg vor dem Einödhof, der »Ebene«. Wankend und kriechend erreicht er das Gehöft, stürzt in die Stube und stammelt:

,,D’ Länd isch kumme und hot d’ Hütte wekgrisse. Uli und Sefa sind no domm!” Dann sind seine Kräfte am Ende. Er hat sein Ziel erreicht und seinen Auftrag erfüllt! Eine wohltuende Ohnmacht und ein tagelanger „Heilschlaf” helfen dem zähen Burschen über die erlittenen Strapazen und den Schock hinweg.

Auf der Ebene gab es damals noch kein Telefon. Der Hausherr rannte zu Fuß nach Schwand, von dort wurde Horstens Meldung an die Polizei weitergegeben.

Zurück zur Schlappoldalpe, wo die Verletzten auf den Abtransport warteten. Nach der ersten Versorgung begann das Problem - zwei Verletzte in einem Akja! Obwohl wir ihnen entsprechende Mittel verabreicht hatten, mußten die beiden entsetzliche Schmerzen ausstehen. Aber es gab keine andere Wahl.

Der auf glatter Schneebahn so herrlich gleitende Akja sackte in dem lockeren Schnee weg, wie ein überladenes Boot im Wasser. Zwei, drei, teils vier Mann stapften mit den Skiern voraus, um ein wenig Bahn für das Gefährt zu schaffen. Man wechselte sich gegenseitig ab, aber ich weiß nicht, was anstrengender war, die Spur zu legen oder den überladenen Akja zu schleppen. Als es galt, den Kuchenbach zu queren, wußten alle, daß hier erhöhte Lawinengefahr bestand. Der beste Kenner des Geländes, der Hüttenwirt, lag jedoch im Akja. Wir nahmen ihm die Decke vom Gesicht, damit er sich, soweit es bei Nacht und Schneesturm möglich war, orientieren konnte. Man kam überein, in den Tobel schräg einzufahren und möglichst schnell in einem Zuge auf der anderen Seite wieder schräg hinauf den Tobelrand zu erreichen. Ein Seilvorspann wurde angebracht und dann gings in den Tobel hinunter. Ohne Aufenthalt mußte der Aufstieg genommen werden. Es war ein Ziehen, Schieben, Keuchen und Hasten, um aus der Gefahrenzone zu kommen. Gerade als der Tobelrand erreicht war, sackte die Schneedecke zusammen und eine Staublawine schoß durch den Tobel. Glück gehabt!

Je weiter wir uns dem Schlappold-Höfle zuquälten, umso feuchter wurde der Schnee. Die Holzskier setzten Stollen an und erschwerten das Weiterkommen zusätzlich. Wir waren mit den Verunglückten nun schon Stunden unterwegs. Langsam schwanden auch unsere Kräfte. Ich hatte ein zusätzliches Problem, denn ich fuhr damals einen ziemlich harten „Hammer-Ski”. Der war wohl auf der Piste gut, aber im Tiefschnee „bohrte” er gerne, so daß ich gelegentlich ungewollt einen Kopfstand baute. Als wir in die Nähe der Höfle-Hütte kamen und aus den Gefahrenzonen waren, überlegten wir, dort den Tag abzuwarten. Die Entscheidung ob ja oder nein wurde uns unmittelbar neben der Hütte abgenommen. Der Vordermann am Akja brach dort in eine Schneeloch ein und riß dabei beide vordere Holme ab. Damit war die Weiterfahrt mit dem überladenen Gefährt beendet.

Uli wußte das Versteck des Hüttenschlüssels, so daß wir mühelos unter das schützende Obdach kamen. Wenn es in der Hütte auch kalt war, so empfanden wir den Umstand, dem Sturm entronnen zu sein, schon fast als wohlig.
Wir entschlossen uns, den Tag abzuwarten und betteten die Verletzten in die Bugrad. In Decken gehüllt konnten sie sich dort von den erlittenen Schmerzen und Albträumen etwas erholen. Einige Schlucke heißer Tee, den wir bereiteten, halfen auch noch weiter. Wir saßen hundemüde um das prasselnde Feuer in der Sennküche.

Beim Morgengrauen verließen uns Erwin Baier und sein Hausl, um wieder zu ihrer Hütte zu kommen. Sie waren uns eine große Hilfe gewesen. Gerade als wir versuchten unser defektes Gefährt wieder in Ordnung zu bringen, tauchten plötzlich vermummte Gestalten auf. Eine weitere Gruppe unserer Bergwachtkameraden kam uns mit einem neuen Akja zu Hilfe. Wir waren von da ab praktisch nur noch „Statisten”, bis die Verletzten endlich im Tal in ärztliche Versorgung übergeben werden konnten.

Die Alpgenossenschaft Schlappold hatte durch den Verlust der neuausgebauten Sennhütte großen Schaden erlitten. Das Wirtsehepaar verlor einen Großteil seiner Habe und der eingelagerten Vorräte. Horst, ein junger, alleinstehender Bursche, besaß, als er von seinem Tiefschlaf erwachte, nur noch den alten Trainingsanzug, den er im Bett getragen hatte. Aber Glück im Unglück hatten die drei Beteiligten. Wer hinterher die zerstörte Hütte sah, hätte nie geglaubt, daß aus diesem Trümmerhaufen ein Mensch lebend entkommen könnte.

Schlappold - Heft 39

Die 1948 teilweise neuerrichtete Schlappolder Alphütte, die im Winter vom Rheinischen Turnerbund als Skihütte gepachtet und vom Ehepaar Ulrich und Sefa Loos bewirtet worden war.

Aber nicht auszudenken, wäre das Unglück 48 Stunden später geschehen. Mehr als 30 Menschen wären dann in der Hütte gewesen. Was mögen die 25 jungen Mitglieder des Rheinischen Turnerbundes gedacht haben, als sie am Sonntag abfahrbereit in den Skiurlaub dastanden und erfuhren, daß es ihre Skihütte nicht mehr gab?

Urlaub verpatzt, aber am Leben geblieben, so könnte man diese Situation beschreiben. Eine andere Skifahrergruppe hatte weniger Glück, als im Kleinwalsertal die Melködehütte von einer Lawine getroffen wurde. 18 junge Menschen kamen dabei ums Leben.

Ein Jahr nach dem Schlappold-Unglück trafen sich einige der beteiligten BW-Männer mit dem Ehepaar Loos und dem Horst. Wir feierten „Geburtstag”. Denn bei soviel Glück, wie wir alle hatten, da mußte unser Schutzengel eine ganze Kompanie Helfer gehabt haben.

Von der BW-Bereitschaft Oberstdorf waren an der nächtlichen Aktion beteiligt: Hansl Foshag, Willi Geißler, Anderl Heckmair, Hans Helfer, Sepp Isemann, mein Bruder Fridel und ich.

Schlappold - Heft 39

In den folgenden Wochen führten wir „Grabungen” durch, um verschüttetes Gut zu bergen. Viele Dinge kamen aber erst bei der Schneeschmelze wieder ans Tageslicht. Mit der Lawine war auch der Plan, eine Materialbahn zur Hütte zu bauen, gestorben. Im Bild eine der bereits errichteten Stützen.

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1. Vorsitzender
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